Wie das Skelett ein Geschlecht bekam

Recherche- und Diskussionsauftrag

  • Lest den Text "Der Unterschied geht tiefer: Die wissenschaftliche Suche nach dem Unterschied der Geschlechter" und erläutert den Zusammenhang zwischen den Forschungen der Wissenschafter_innen und den Veränderungen der Gesellschaftsordnung im 18. und 19. Jahrhundert.
  • Beschreibt, nach welchen Kriterien die Wissenschaftler_innen beim Bau des weiblichen Skeletts vorgingen. Diskutiert, ob ihr diese Vorgehensweise zulässig findet.
  • Fragen zum Weiterdenken: Wie schätzt ihr die anatomische Wissenschaft im 18. Jahrhundert ein? Sind die biologischen Wissenschaften heute weniger von gesellschaftlichen Vorstellungen über Geschlechter geprägt? Kann Wissenschaft überhaupt von gesellschaftlichen Vorstellungen befreit werden? Ist es möglich, den menschlichen Körper zutreffend darzustellen? Können wir die Natur richtig abbilden?

Aufbereiteter Auszug aus: Londa Schiebinger: Schöne Geister: Frauen in den Anfängen der modernen Wissenschaft. Stuttgart: Klett-Cotta, 1993 (Kapitel: Der Unterschied geht tiefer: Die wissenschaftliche Suche nach dem Unterschied der Geschlechter)

In Europa fanden im 18. Jahrhundert große Umwälzungen statt, aus denen die moderne Gesellschaft entstand. Ein wichtiger Moment war die Verbreitung der Aufklärung und eines weltlichen Weltbildes. Die Aufklärung ist eine politische Theorie, die behauptet alle Menschen sind gleich und frei geboren und allen stehen die gleichen Menschenrechte zu. Damit lehnte sich die Bevölkerung gegen die religiöse Ständeordnung auf, die bis dahin in Europa verbreitet war und allen Menschen einen gottgegebenen Platz in einer hierarchischen, feudalen Gesellschaft zuwies. Gegen Religion und traditionelle Autoritäten wurde die Vernunftfähigkeit des Menschen ins Feld geführt, die für sich selbst denken sollten. Damit einher ging ein Vertrauen in Bildung, Wissenschaft und gesellschaftlichen Fortschritt. Die Aufklärung ging einher mit der Herausbildung einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die gesellschaftlichen Veränderungen wirkten sich auch auf die Wahrnehmung der Welt und der Menschen aus, auch auf die Körperbilder und die Geschlechterordnung. Die Vorstellung, dass Frauen und Männer grundlegend unterschiedliche Wesen sind, die jeweils andere Aufgaben und Fähigkeiten haben, entstand in dieser Form erst im 18. Jahrhundert (siehe auch den Beitrag in der Forschungsstation zum Thema Geschlechtergeschichte). Von da an galten zwar alle ‚Menschen‘ als frei, gleich und vernunftfähig, doch damit waren nur bürgerliche Männer gemeint. Frauen wurden von nun an als grundlegend andere Wesen verstanden und von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen.

Der Unterschied geht tiefer: Die wissenschaftliche Suche nach dem Unterschied der Geschlechter

Die Wissenschaftshistorikerin Londa Schiebinger beschäftigt sich mit einer wichtigen Episode in der Herausbildung einer modernen Vorstellung von Körpern und Geschlechtern. Sie schreibt: "In den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts entwickelten die europäischen Anatomen die Vorstellung eines männlichen und weiblichen Körpers, von denen beide ihr spezifisches Telos [Bestimmung] hatten: der Mann die Kraft des Körpers und des Intellekts, die Frau die Mütterlichkeit."

Die Basis für den Geschlechterunterschied wurde, gemäß der säkularen Aufklärung, in der Natur gesehen."Der radikale Wandel im wissenschaftlichen Verständnis des Geschlechts hatte unter anderem zur Verwendung neuer Methoden geführt; die Unterschiede zwischen Mann und Frau wurden exakt abgemessen, beschrieben und dargestellt." Die menschlichen Körper und vor allem die Knochen wurden also von den Anatom_innen des 18. Jahrhunderts intensiv erforscht: "In Folge dieser vertieften Beschäftigung mit dem Geschlechterunterschied tauchten in der Zeit zwischen 1730 und 1790 in Europa die ersten Zeichnungen eines weiblichen Skeletts auf."

Schiebinger untersucht die wichtigsten Darstellungen des weiblichen Skeletts aus dieser Zeit und zeigt, wie die Wissenschaft dazu beigetragen hat, sexistische Bilder zu erzeugen und zu verbreiten. Am Ende des 18. Jahrhunderts, so Schiebinger, "war Europa mit Darstellungen weiblicher Skelette überflutet, darunter die von […] Marie Thiroux d’Arconville (1753) und Samuel Thomas von Sömmerring (1796). Und obwohl jede für sich in Anspruch nahm, das perfekte weibliche Skelett abzubilden, wichen sie erheblich voneinander ab.“ Die Darstellung des weiblichen Skeletts der Anatomin Marie Thiroux d’Arconville kann Schiebinger zufolge "als konkurrenzloses Beispiel einer ‚sexistischen‘ Darstellung des weiblichen Skeletts" bezeichnet werden: "In ihrer Abbildung des weiblichen Skeletts erschienen die beiden Körperteile, um die sich die gesellschaftspolitische Debatte entspann – der Schädel als Ausdruck der Intelligenz, das Becken als Maß von Weiblichkeit –, in beinahe karikierender [überspitzter] Pointierung [Hervorhebung]. Der Schädel der Frau ist – fälschlicherweise – im Verhältnis zum Körper kleiner als der Kopf des Mannes."

Ein paar Jahrzehnte später, im Jahr 1796, legte der deutsche Anatom Samuel Thomas von Sömmerring eine Zeichnung des weiblichen Skeletts vor. Schiebinger stellt fest: "Obwohl beide, Marie Thiroux d’Arconville und Sömmerring, ihre weiblichen Skelette ‚genau‘ nach der Natur zeichneten, wurde heftig über die Form des weiblichen Skeletts debattiert. Anders als bei der Französin war der weibliche Schädel bei Sömmerring im Verhältnis zum Körper größer als der männliche. Der Brustkorb war nur um Nuancen schmaler als die Hüften. […] Ungeachtet oder gerade wegen ihrer Übertreibungen zog man vor allem in England die Zeichnungen von Marie Thiroux d’Arconville vor. Sömmerrings Skelett dagegen wurde wegen seiner ‚Ungenauigkeiten‘ attackiert. John Barclay, ein Mediziner aus Edinburgh, […] warf Sömmerring im Besonderen die unkorrekte Darstellung des Größenverhältnisses zwischen Brustkorb und Hüften vor. Seine Auffassung verteidigte er mit dem Argument, der weibliche Brustkorb sei sehr viel schmaler als Sömmerring es gezeigt habe; die zurückgezogene Lebensweise der Frauen bringe es mit sich, dass sie weniger intensiv atmeten."

Schiebinger fragt sich: "Was ist von dieser Kontroverse zu halten? Wurde der menschliche Körper in diesen äußerst genauen Abbildungen des weiblichen und männlichen Skeletts wirklich zutreffend dargestellt?" Sie sucht eine Antwort, indem sie sich ansieht, wie die beiden Wissenschaftler_innen zu ihren Ergebnissen kamen: "Auch wenn die Absichten der Anatomen [und Anatominnen] dahin gingen, den Körper genau und in seiner allgemeinen Form abzubilden, waren die Darstellungen des menschlichen Körpers im 18. Jahrhundert ein Spiegel kultureller Wertvorstellungen. Die Illustrationen stellten zwar die Knochen des männlichen und weiblichen Körpers dar, dienten aber auch dazu, zeitgenössische Ideale vom männlichen und weiblichen Wesen zu schaffen und zu verbreiten. Das geschah zum Teil über die Modellauswahl. […] Sömmerring schildert, wie es bei der Wahl des ‚idealen‘ Vorbildes für seine Illustration des weiblichen Skeletts vorging: ‚Vor allem lag mir daran, den Körper einer Frau zu finden, die sich nicht nur durch Jugend und Gebärfähigkeit auszeichnen sollte, sondern auch durch Zierlichkeit, Wohlgestaltetheit und Anmut, durch Liebreiz und Schönheit ihrer Glieder […]‘".

Schiebinger stellt daher fest: „Während die Anatomen [und Anatominnen] versuchten, die Natur mit peinlichster Genauigkeit abzubilden, wurde in der Darstellung der Körperform die größte Schönheit und Allgemeinheit angestrebt.“ Heute scheinen diese beiden Ansprüchen – die genaue Abbildung der Natur und die Schönheit – widersprüchlich, doch damals konnten sie so nebeneinander stehen bleiben. Die Anatom_innen des 18. Jahrhunderts wollten einen „Homo Perfectus, einen universellen und idealen Typus“ schaffen und dafür „‚korrigierten‘ [sie] die Natur nach den neuen Idealvorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit.“ Sömmerring war einer der einflussreichsten deutschen Anatomen und seine Darstellung der Skelette wurde dennoch auch weit verbreitet. In weiterer Folge wurden bei gesellschaftlichen Debatten um die Stellung der Frauen immer wieder auf die anatomischen Ergebnisse zurückgegriffen, so willkürlich diese heute scheinen. Die fehlende Vernunftfähigkeit der Frauen galt als anatomisch durch den kleineren Schädel ‚belegt‘. Dies wurde herangezogen, um beispielsweise gegen die Zulassung von Frauen zum Hochschulstudium und zum Wahlrecht zu argumentieren. Wie stark die Wissenschaft im Dienste gesellschaftlicher Interessen stehen kann, wird in der Weiterentwicklung der Debatte um den weiblichen Schädel deutlich, die Schiebinger in ihrem Text zusammenfasst: „Später allerdings mussten die Anatomen anerkennen, dass Sömmerring den weiblichen Schädel richtig beschrieben hatte – er ist im Verhältnis zum Rest des Körpers größer als der männliche.“

Londa Schiebinger, *1952 US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin und Wissenschaftstheoretikerin. Professorin für Geschichte und Direktorin des Institute for Research on Women and Gender an der Stanford University.