Was ist wissenschaftliches Wissen überhaupt? Wie unterscheidet es sich von anderen Formen des Wissens? Das ist Gegenstand der Epistemologie, einem Teilbereich der Philosophie. Der Begriff Epistemologie setzt sich zusammen aus dem griechischen "epistéme" – Wissen, Erkenntnis und "lógos" – Lehre, Wissenschaft. Epistemologie bedeutet also die "Lehre von der Erkenntnis" oder die "Wissenschaft vom Wissen". Die Epistemologie fragt nach den Voraussetzungen und Zielen der Erkenntnis. Sie beschäftigt sich mit Subjekt (Wer?), Methode (Wie?) und Objekt (Was?) der Erkenntnis: Wer produziert Wissen? Wie wird Wissen hergestellt und begründet? Was kann überhaupt gewusst werden?
Kritische Epistemologien
Kritik bedeutet, bestehende Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen: Warum sind manche Menschen arm und andere reich? Warum erleben Frauen sexistische Übergriffe? Warum gibt es Rassismus? Die Antworten werden nicht nur bei den einzelnen Menschen gesucht, sondern auch in der Gesellschaft. Es gibt gesellschaftliche Verhältnisse, die den Zugang zu Ressourcen, Arbeit, Sicherheit und Leiden ungleich verteilen. Dadurch wird Menschen in verschieden Positionen ermöglicht, bestimmte Dinge zu tun und andere nicht. Kritische Epistemologien fragen, was diese Herrschaftsverhältnisse mit Wissen zu tun haben. Dabei wenden sie sich vor allem gegen empiristische Positionen. Der Empirismus geht davon aus, dass es möglich ist, auf der Basis "reiner Beobachtung" und ohne Werturteile zu Erkenntnissen zu gelangen. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Methode der Erkenntnis, die eine unvoreingenommene Datensammlung ermöglichen soll (z.B. Experiment). Für den Empirismus macht es also keinen Unterschied, wer etwas "erkennt" und welche theoretischen Annahmen dabei zum Zug kommen.
Kritische Epistemologien halten zwar daran fest, dass verbindliche Erkenntnisansprüche möglich und notwendig sind. Dabei betonen sie aber die Bedeutung von Macht in der Herstellung von Wissen. Anders als im Empirismus sind die Erkenntnissubjekte nicht einfach austauschbar. Vielmehr spielen ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Positionen in der Gesellschaft – als Frauen, Männer, Schwarze, Migrant_innen, Arbeiter_innen, Menschen mit Behinderung, Intellektuelle etc. – eine Rolle in der Produktion von Wissen. Sie prägen nicht nur das Erkenntnisinteresse von Menschen (Was wird überhaupt erforscht?), sondern auch den theoretischen Blick (Welche Annahmen über die Wirklichkeit liegen dem Forschungsprozess zugrunde?), das methodische Vorgehen (Wie wird etwas erforscht?) und die Forschungsergebnisse (Wie lassen sich die Daten interpretieren? Welche Erkenntnisse können daraus gezogen werden?).
Alltagstheorien
Eine zentrale Bedeutung kommt Theorien und Begriffen in der Wissensproduktion zu. Im Unterschied zum Empirismus gehen kritische Epistemologien nicht davon aus, dass theorie- und wertfreie Beobachtung möglich ist. Das Wissen über die Welt ist immer abhängig von der "theoretischen Brille", die Menschen tragen. Diese kann aus Alltagstheorien bestehen oder aus wissenschaftlichen Theorien. Alltagstheorien sind fest im Denken der Menschen verankert und bestimmen, was „normal“ ist. Doch was als "normal" und selbstverständlich gilt, hat sich im Laufe der Geschichte stark verändert, wie die historische Forschung gezeigt hat). Auch die Theorien und Begriffe, mit denen wir die Welt erfassen, verändern sich und mit ihnen das Wissen über die Welt. Diese Vorannahmen bleiben im Forschungsprozess oft unbemerkt. Insbesondere Machtverhältnisse und Ungleichheiten (z.B. zwischen Männern und Frauen) werden im Alltagsdenken als "normal" und selbstverständlich angenommen. Das wirkt sich auf die Wissensproduktion aus, und so wiederholt die Wissenschaft oft Machtverhältnisse, anstatt sie in Frage zu stellen. Kritische Epistemologien fordern dazu auf, Alltagstheorien kritisch zu hinterfragen und zu erkennen, welche Rolle sie in der Wissenschaft spielen. Es geht also darum, die theoretischen Werkzeuge, seien es Alltagstheorien oder wissenschaftliche Theorien, selbst in den Blick zu nehmen. Verknüpft ist damit der kritische Anspruch, bestehende Herrschaftsverhältnisse zu erkennen und zu deren Veränderung beizutragen. In diesem Verständnis sind Epistemologien immer politisch, da sie entweder Herrschaftsverhältnisse rechtfertigen oder kritisieren.
Feministische Epistemologien
Frauen waren lange Zeit aus der Wissensproduktion ausgeschlossen und das wirkte sich auf die Inhalte der Forschung aus. Infolge der Frauenbewegung der 1970er-Jahre wurde Wissenschaft zunehmend als sexistisches und androzentrisches Unterfangen kritisiert. Viele feministische Kritikerinnen wollen die Versprechen der Wissenschaft trotzdem nicht aufgeben und halten daran fest, dass Wissenschaft zu einer "besseren“ Welt beitragen kann. Sie streben daher eine Neugestaltung von Wissenschaft. Wie das möglich ist, wird unter dem Begriff "feministische Epistemologien" diskutiert.
- Feministische Epistemologien fragen, wie gesellschaftliche und historische Einflüsse mitbestimmen, was als wissenschaftliches Wissen gilt und was nicht.
- Wer stellt unter welchen Bedingungen mit welchen Interessen Wissen her?
- In wie fern beeinflusst die gesellschaftliche Postion des Erkenntnissubjekts (der/ die Wissenschafter_in) die Erkenntnis? Welche Rolle spielt das Geschlecht der Forscher_in für die Forschung?
24.08.2017