Das große I der Idiotie - Polemik zum Binnen-I

Schreibauftrag

Henryk M. Broder: Das große I der Idiotie

Lies den Text des sehr bekannten, aber ebenso umstrittenen Kolumnisten (Spiegel, Kleine Zeitung, ...) Henryk M. Broder und untersuche, welche Themen er behandelt, wogegen er sich ausspricht und wofür er sich einsetzt.

Mit welchen sprachlichen und rhetorischen Mitteln tut er dies, wie weit kann er überzeugen?

Bewerte den Text kritisch und versuche ihm einen eigenen Text entgegen zu setzen. Argumentiere sachlich, aber sprachlich pointiert.

Henryk M. Broder:

Das große I der Idiotie

Die englische Schriftstellerin Fay Weldon hat vor kurzem in einem Gespräch mit der schottischen Zeitung „The Scotsman“ über den Rollenwechsel geklagt, der zwischen Frauen und Männern stattgefunden habe. Frauen seien maskulin und Männer feminin geworden, zum Nachteil beider Seiten. Derselbe „gender switch“ spiele sich auch „in ganz Europa“ ab. „Nationen sind feminisiert worden und sorgen sich darum, was die Nachbarn denken könnten, Regierungen reden über Teilnahme, Fürsorge und Kompromisse, während sie früher über Macht, Disziplin, Organisation und Kompetenzen gesprochen haben.“

Sie verhielten sich wie geschlagene Frauen, die die Schuld für das Verhalten ihrer Männer immer bei sich suchen und, statt sich zu wehren, versprechen, den Mann nie wieder zu provozieren. „Das ist gefährlich – Unterwerfung macht alles noch schlimmer.“ Wenn der Islam angreift, „entschuldigen wir uns, weil wir ihm nicht genug Respekt gezollt haben“.

Fay Weldon gilt als Feministin, zumindest hat sie mit der Frauenbewegung sympathisiert. Sie sagt, sie tut es noch immer, was sie nicht daran hindert, die fatalen Folgen der „Feminisierung“ zu bedenken. Dass sie Recht hat, wird jeder bestätigen, der mit offenen Augen mittags durch eine deutsche Stadt geht. Kaum ein Mann, der nicht gepierct wäre, keine Drogerie oder Parfümerie, die nicht spezielle Produkte für den Mann anbieten würde. Die Cafes sind voll mit parlierenden Männern, die offenbar weder einer geregelten Arbeit nachgehen noch eine Familie ernähren müssen. Aber das sind nur Äußerlichkeiten. Inzwischen leiden auch Männer unter Wechseljahren und wenn sie ganz unter sich sind, reden sie nicht über Fußball und Formel 1, sondern darüber, wie benachteiligt sie sich fühlen, weil ihnen die Erfahrung der Schwangerschaft versagt bleibt. Selbst Angehörige des so genannten Präkariats, das früher ein Hort der unreflektierten Männlichkeit war, klagen in Programmen wie „Big Brother“ darüber, dass sie als Männer zur Welt gekommen sind. Schwer zu sagen, wann das alles angefangen hat. Mit den Studenten, die in Latzhosen und mit Strickzeug in die BWL-Vorlesungen gekommen sind? Mit den kleinen Stickern, auf denen die Männer aufgefordert wurden, sich zum Pinkeln hinzusetzen? Mit dem Satz „Wir sind schwanger“, mit dem Paare bekannt geben, dass die natürliche Insemination geklappt hat?

Dass die Feminisierung des Alltags in Deutschland sich dermaßen flächendeckend durchsetzen konnte, hat mit der Struktur der deutschen Sprache zu tun. Vor etwa 20 Jahren hat die Berliner „taz“ das große „I“ erfunden, seitdem gibt es die LeserInnen. Es dauerte nicht lange, und es traten bei Wahlen auf der einen Seite PolitikerInnen und auf der anderen WählerInnen auf. Inzwischen werden SoldatInnen zu Kampfeinsätzen in die Welt geschickt und bei den Feierlichkeiten zur Erinnerung an den Holocaust ist routinemäßig von Juden und Jüdinnen die Rede, damit niemand auf die Idee kommt, es seien nur männliche Juden in den Tod geschickt worden. Die sprachlichen Verrenkungen finden dort eine Grenze, wo es um ein sozial verwerfliches Verhalten geht. Spekulanten und Verbrecher bleiben exklusiv männlich, ebenso Antisemiten und Kinderschänder. Aber das muss nicht ewig so bleiben. Zunehmend nehmen auch AlkoholikerInnen und KampftrinkerInnen an Saufgelagen teil.

Eine Gesellschaft, in der mit großer Leidenschaft über die Kilometerpauschale diskutiert wird, kann sich solche Eskapismen leisten – so lange, wie sie nicht mit existenziellen Problemen konfrontiert wird. Dann aber stehen die Sitzpinkler aller Disziplinen auf und erklären das Ende der Gemütlichkeit. Die klammheimlichen und auch offenen Sympathien für die Politik Russlands und des Iran gegenüber dem dekadenten Westen, lassen sich auch damit erklären, dass diese Länder von Politikern regiert werden, die nicht im Verdacht stehen, jemals ihre Kinder gewickelt oder mit ihren Frauen Schwangerschaftskurse besucht zu haben. So verschieden Ahmadinejad und Putin auch sind, an ihrer aggressiven Männlichkeit sollte besser nicht gezweifelt werden. Derweil wenden sich sowohl Kanzlerin Merkel wie auch ihr Finanzminister Steinbrück an die „Sparerinnen und Sparer“ im Lande und garantieren den Schutz ihrer Spareinlagen. Die Krise rast auf den Abgrund zu, nur die politisch korrekte Idiotie bewegt sich nicht von der Stelle.

(Erschienen in DIE WELTWOCHE vom 9.10.2008)

Anmerkung: Eine andere Sichtweise vertritt Luise F. Pusch in ihrem Artikel "Die weibliche Seite der Sprache".