Geschlechtergeschichte

In der Geschichtswissenschaft hat sich zunächst die Frauengeschichte etablieren können, die nach den fehlenden Frauen in der Geschichte forschte. Zunehmend entwickelte sich auch die Erforschung der allgemeinen Geschlechterverhältnisse. Die Geschlechtergeschichte untersucht die Vorstellungen von Geschlechtern in der Vergangenheit und zeigt auf, wie sich unsere heutige Sichtweise von Geschlechtern durchgesetzt hat. Der folgende Text gibt einen Einblick in diese Entwicklungen.

Geschlechterordnungen im Wandel

In Europa herrschte bis ins 18. Jahrhundert die Vorstellung, Frauen und Männer seien aus dem gleichen Stoff gemacht. Der Mann war in dieser Vorstellung zwar vollkommener als die Frau. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern war allerdings ein gradueller und keine grundlegende Verschiedenheit. Männer besaßen demnach mehr Körpertemperatur als die "kälteren" Frauen. Die Kälte war in der damaligen Logik der Grund dafür, dass Frauen ihre Genitalien im Inneren des Körpers hatten. Die Gelehrten gingen bis ins 18. Jahrhundert davon aus, dass es dieselben Organe wären, die Männer außen trugen. In dieser Vorstellung waren die Vagina der innere Penis und die Eierstöcke die inneren Hoden. Daher gab es auch die Überzeugung, dass Frauen Samen produzierten, die als wichtiger Bestandteil der Zeugung verstanden wurden.

Im 18. Jahrhundert entwickelten Anatom_innen eine "Sonderanthropologie des Weibes", in der Frauen als grundsätzlich andere Wesen verstanden wurden. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern wurden in jedem einzelnen Körperteil gesucht: nicht nur in den Genitalien, sondern auch in Knochen, Muskeln und Nerven. Diese Vorstellung prägt unser Verständnis von Geschlechtern bis heute. Zwar würde wohl niemand mehr behaupten, Frauen hätten einen kleineren Schädel und wären deshalb nicht vernunftbegabt; dennoch sucht die Soziobiologie auch heute nach biologischen Geschlechterunterschieden, die sie dann für gesellschaftliche Unterschiede verantwortlich macht.

Die Durchsetzung dieser Geschlechterdichotomie, also der Vorstellung, dass Frauen und Männer zwei grundsätzlich verschiedene Wesen sind, war Teil einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung, die sich im 18. Jahrhundert in Europa vollzog. Eine bürgerliche, weltliche und kapitalistische Ordnung entstand. Damit einher ging erstmals eine Unterscheidung von Lohnarbeit und Hausarbeit, von Arbeitszeit und Freizeit und von Öffentlichkeit und Privatheit. Frauen wurden dabei der privaten Sphäre zugeordnet, die nunmehr als Gegenpol zu und Erholungsort von Arbeit und Politik – der öffentlichen, "männlichen" Sphäre – galt. Frauen wurden für die Familie verantwortlich gemacht und sollten sich um die Kindererziehung und um das Wohlergehen des Ehemanns kümmern. Gleichzeitig wurden die häuslichen Tätigkeiten von Frauen systematisch unsichtbar gemacht und abgewertet.

Das wurde begleitet von der Theorie der Aufklärung, die von der grundlegenden Gleichheit aller Menschen ausging. Allen Menschen sollten die gleichen Rechte zustehen, unabhängig von Herkunft, Religion oder Stand. Doch Frauen waren aus der Gemeinschaft der Gleichen ausgeschlossen. Sie sollten nicht in der Öffentlichkeit sein und deshalb weder arbeiten, studieren, noch wählen. Belegt wurde dies durch die wissenschaftliche Behauptung eines grundlegenden Geschlechterunterschiedes. Der gesamte weibliche Körper galt als Beleg für die gesellschaftliche Position, die bürgerliche Vorstellungen für die Frauen vorsahen.

Im 18. und 19. Jahrhundert wurde eine polarisierte Geschlechterordnung hergestellt, mit der die Welt in männlich und weiblich eingeteilt wurde. Frauen wurde der private, familiäre Bereich zugesprochen, Männern der öffentliche, berufliche Bereich. Frauen sollten liebevoll, abhängig, schwach, schön und emotional sein; Männer hingegen gewalttätig, selbstständig, stark, würdevoll und rational. Diese Gegensatzpaare halten sich bis heute in unserer Vorstellung von Geschlechtern. Sie wurden aber erst vor ca. 200 Jahren mit vielen Bemühungen eingeführt und seitdem von vielen Seiten, vor allem von den Frauenbewegungen bekämpft.

Zum Weiterlesen

  • Andrea Griesebner (1999): Historisierte Körper. Herausforderungen für die Konzeptualisierung von „gender“ aus der Perspektive der Frühen Neuzeit. In: Christa Gürtler/Eva Hausbacher (Hg.): Unter die Haut. Körperdiskurse in Geschichte(n) und Bildern. Beiträge der 5. Frauen-Ringvorlesung an der Universität Salzburg. Innsbruck, Wien, S. 53-75.
  • Karin Hausen: Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Ernst Klett: Stuttgart, 1976. S. 363-393.
  • Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850. Frankfurt/Main: Campus Verlag, 1991.
  • Claudia Opitz: Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte. Tübingen: edition diskord, 2005.