Recherche- und Diskussionsauftrag
- Lest den Text der Wissenschaftstheoretikerin Sandra Harding und sammelt Beispiele für "progressive und regressive Tendenzen" der Wissenschaft.
- Diskutiert, ob und wie die Welt ein besserer/ schlechterer Ort ist, seit es die Wissenschaften gibt. Wenn ja, für wen, für wen nicht? Wie müsste die Wissenschaft beschaffen sein, damit die Welt ein besserer Ort wird?
Aufbereiteter Auszug aus: Sandra Harding: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken Wissenschaft neu. Frankfurt: Campus 1994. (Kapitel: Nach der Wissenschaftsfrage im Feminismus)
Nach der Wissenschaftsfrage im Feminismus
Die Wissenschaft ist von vielen Seiten kritisch beleuchtet worden. Im Zusammenhang mit der Frauenbewegung wurde eine fundierte Wissenschaftskritik entwickelt, die die Wissenschaft nachhaltig verändern sollte. „Feministinnen kritisieren nicht nur ‚schlechte Wissenschaft‘, sondern auch die Problemstellungen, Programme, Ethiken, Konsequenzen und den Status der sogenannten ‚science-as-usual‘ (dt. etwa: ‚herkömmliche Wissenschaft‘). Diese Kritiken stehen im Zusammenhang mit der Forderung nach besserer Wissenschaft: Wichtige feministische Ansätze versprechen, empirisch adäquatere [angemessenere] und theoretisch weniger voreingenommene und verzerrte Beschreibungen und Erklärungen von Frauen, Männern, Geschlechterverhältnissen und allen sonstigen sozialen und natürlichen Welten bereitzustellen, einschließlich der Frage, wie die Wissenschaften funktioniert haben, funktionieren und funktionieren könnten.“ Es geht also nicht darum, Wissenschaft abzulehnen, sondern zu verstehen, wie sie funktioniert, und sie so zu verändern, dass sie dem Wohl der Menschen dient. Dafür ist es notwendig, Wissenschaft als vielschichtiges, soziales Unternehmen zu begreifen.
„Die modernen westlichen Wissenschaften und ihre Technologien sind immer sowohl mit Enthusiasmus wie auch mit Furcht betrachtet worden. Auf der einen Seite verbinden wir mit ihnen eine zumindest teilweise Verantwortlichkeit für den hohen Lebensstandard, den viele – vor allem Weiße und Angehörige der Mittel- und Oberschicht – in den westlichen Gesellschaften genießen. Es ist unvorstellbar für uns, daß wir uns einmal wünschen könnten, die Nahrung und Kleidung, medizinische Versorgung, Autos, Flugzeuge, Computer, Fernsehen und Telefon, die durch die wissenschaftliche und technologische Entwicklung zur Verfügung stehen, aufzugeben. Auf der anderen Seite müssen wir fragen, wer oder was für die Atombomben, Agent Orange [eine chemische Substanz, die tödlich und stark umweltschädigend ist und durch ihren Einsatz im Vietnamkrieg berühmt wurde], industrielle Ausbeutung, Luftverschmutzung und Ölteppiche, gefährliche Verhütungsmittel, unangemessenen Gebrauch von Valium, Profite der Pharmaindustrie, hohe Kindersterblichkeit und die Entwicklung einer schwarzen Unterschicht in den Vereinigten Staaten oder Hunger in Äthiopien verantwortlich ist. Die konventionelle [herkömmliche] Auffassung besteht darauf, daß der Wissenschaft die volle Anerkennung für die guten Seiten des westlichen Lebensstils gebührt und daß solcher ‚Mißbrauch‘ einzig und allein Politikern und der Industrie anzulasten ist, die vormals ‚reine‘ Informationen in sozial unverantwortlicher Weise anwenden.“ Harding erkennt im „Bestehen auf der Trennung zwischen der reinen wissenschaftlichen Forschung hier und der Technologie und den angewandten Wissenschaften da“ eine Strategie, um „die Verantwortung für die Ursachen und Konsequenzen von Wissenschaften und Technologien“ nicht „übernehmen zu müssen“.
Kritik an einem solchen Wissenschaftsverständnis kommt nicht nur von Feministinnen, sondern auch aus der „Umweltschutzbewegung, der Friedensbewegung, der Tierschutzbewegung sowie aus linken, antirassitischen, antiimperialistischen und Arbeiter_innenbewegungen“ auf der ganzen Welt. „Was für alle diese KritikerInnen […] in Frage steht, sind nicht nur die […] Theorien, Methoden, Institutionen und technologischen Konsequenzen der Wissenschaften, sondern auch etwas schwerer zu Fassendes: die westliche wissenschaftliche Weltsicht oder Denkweise.“ Denn in der westlichen Gesellschaft spielt wissenschaftliche Rationalität [Denkweise] eine so zentrale Rolle, dass sie nicht mehr als eine Art, die Welt zu sehen, erkannt wird, sondern als die einzig mögliche Denkweise gilt. Jene, die nicht auf diese Weise die Welt begreifen, gelten als unvernünftig. Wenn die wissenschaftliche Rationalität allerdings kritisch betrachtet wird, erscheint sie oft irrational. Gleichzeitig betont Harding, dass die wissenschaftliche Rationalität nicht einheitlich ist und auch nicht nur schlecht. Vielmehr beinhalte Wissenschaft „sowohl progressive [fortschrittliche] als auch regressive [rückschrittliche] Tendenzen“ und es geht darum, „erstere zu fördern und letztere zu hemmen“. Die wissenschaftliche Rationalität selbst kann und soll von feministischen Kritiker_innen dazu genutzt werden, sich kritisch gegen sich selbst zu wenden und Wissenschaft zu verändern.
Sandra Harding *1935, US-amerikanische Wissenschaftstheoretikerin. Ehemalige Professorin am Center for the Study of Women der University of California, Los Angeles.