Es gibt unterschiedliche Ansätze feministischer Epistemologien, die auch untereinander umstritten sind, beispielsweise feministische Standpunkttheorien.
Feministische Standpunkttheorien wurden Anfang der 1980er Jahre entwickelt, da feministische Forscherinnen den Wissenschaftsbetrieb der Zeit unzulänglich fanden. Dieser machte die Unterdrückung von Frauen unsichtbar und trug zur Erhaltung von sexistischen Strukturen bei. Feministische Standpunkttheoretikerinnen fordern, in der Wissensproduktion vom Leben von Frauen auszugehen. Was der Standpunkt von Frauen als Ausgangspunkt für Forschung bedeutet und welche Vorteile es bringt, wird allerdings unterschiedlich verstanden.
Nancy Hartsock geht beispielsweise davon aus, dass sich das Leben von Frauen aufgrund der von ihnen geleisteten Arbeit vom Leben von Männern unterscheidet. Sie bezieht sich dabei vor allem auf die vielen Stunden von Hausarbeit und der Sorge und Pflege von anderen Menschen. Diese Reproduktionsarbeit ist zwar zentral für die Gesellschaft, aber schlecht oder unbezahlt und wird zudem kaum von Politik und Wissenschaft behandelt. Hartsock schlägt vor, in der Forschung von den Erfahrungen von Frauen auszugehen und diese als Grundbedingung von Gesellschaft sichtbar zu machen. Das ermöglicht ihr zufolge einen objektiveren Blick auf die Gesellschaft als Ganzes.
Patricia Hill Collins’ Konzept der outsider within beschreibt die Situation Schwarzer Wissenschafterinnen in den USA. Sie argumentiert, dass die Wissenschaft sowohl in Bezug auf die Wissenschafter_innen als auch in ihren Theorien und Ergebnissen von "weißer" Dominanz geprägt ist. Schwarze Wissenschafterinnen haben aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position in einer rassistischen Struktur andere Erfahrungen gemacht. Insofern haben sie einen Status der Außenseiterin im wissenschaftlichen Feld. Dies eröffnet laut Collins Vorteile, da sie bestimmte nicht hinterfragte Denkmuster und Theorien eher kritisch sehen. Für insider sind diese oft selbstverständlich. Durch diese doppelte Erfahrung als Außenseiterinnen, die aber das Wissenschaftsfeld gut kennen, kann neues Wissen produziert werden.
Weiterentwicklung von Standpunkttheorien
Feministische Standpunkttheorien wurden auch von Feministinnen äußerst kontrovers diskutiert. Kritisiert wurde insbesondere, dass es so etwas wie eine weibliche Erfahrung gibt, die alle Frauen teilen. „Das Leben von Frauen“ gibt es nicht in der Einzahl, so die Kritik, denn die Leben von Frauen sind sehr unterschiedlich. Eine Schwarze Wissenschaftlerin in den USA, eine Reinigungskraft in Österreich, eine Managerin in Brasilien, eine Fabrikarbeiterin in Bangladesch, eine Ingenieurin in Indien, eine geflüchtete Frau in Libyen, eine Frau mit Migrationsgeschichte – sie alle machen sehr unterschiedliche Erfahrungen.
Da sich also der feministische Standpunkt nicht behaupten lässt, wurde er durch eine Vielzahl von marginalen Standpunkten ersetzt, also die Standpunkte jener, die gesellschaftlich an den Rand gerückt werden. Diese müssen Gemeinsamkeiten und Solidarität durch einen kritischen Dialog erst herstellen. Was allerdings Marginalität kennzeichnet, ist schwer zu bestimmen. bell hooks sieht Marginalität als Ort der Unterdrückung und des Widerstandes. Die Gesellschaft vom Standpunkt Marginalisierter zu betrachten, macht Ausblendungen in dominanten Sichtweisen deutlich und erhöht damit die Objektivität von Forschung. Denn bestimmte gesellschaftliche Probleme rücken erst durch die Kämpfe unterdrückter Gruppen in den Blick. Ein Beispiel ist die Frauenbewegung, die die Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen sichtbar gemacht und wissenschaftliches Wissen nachhaltig verändert hat. Eine Weiterentwicklung feministischer Standpunkttheorien stellt auch Sandra Hardings Ansatz der ‚Starken Objektivität‘ dar. Harding hält damit trotz aller Kritik am Begriff der Objektivität fest, möchte aber ein neues Verständnis von Objektivität begründen. Zwar ist ihr zufolge jede Erkenntnis gesellschaftlich bedingt, doch folgt daraus nicht, dass alle Wissensansprüche gleich gültig sind. Es lässt sich trotzdem zwischen "besseren" und "schlechteren" Wissensansprüchen unterscheiden. Harding tritt für eine Demokratisierung der Wissenschaft ein. Wenn möglichst viele unterschiedliche Menschen und ihre Erfahrungen in der Wissenschaft Platz finden und reflektiert werden, stärkt das die Objektivität.
Auch Donna Haraway bezieht sich kritisch auf feministische Standpunktansätze. Sie entwickelt einen weiteren feministischen Ansatz von Objektivität als ‚Situiertes Wissen‘ (Feministische Objektivität).
Alle Ansätze der feministischen Standpunkttheorien verstehen einen Standpunkt nicht als etwas einfach Gegebenes. Frau-Sein führt also nicht automatisch zu einem feministischen Standpunkt. Dafür braucht es eine kritische Auseinandersetzung mit den herrschenden Machtverhältnissen und der Frage, wie diese mit eigenen Erfahrungen und Lebensbedingungen zusammenhängen.
Literatur:
- Patricia Hill Collins: Black Feminist Thought: Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment, New York: Routledge, 1990.
- Sandra Harding: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken Wissenschaft neu. Frankfurt: Campus, 1994.
- Nancy Hartsock: The Feminist Standpoint Revisited and Other Essays. Boulder: Westview Press, 1998.
- bell hooks: Feminist Theory. From Margin to Center. Cambridge: South End Press, 2000.
- Iris Mendel: WiderStandPunkte. Umkämpftes Wissen, feministische Wissenschaftskritik und kritische Sozialwissenschaften. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2015.
- Mona Singer: Geteilte Wahrheit. Feministische Epistemologie, Wissenssoziologie und Cultural Studies. Wien: Löcker, 2005.