Geschlechterkonstruktion

Lange Zeit war man davon überzeugt, dass das Geschlecht den Menschen von Natur aus eingeschrieben ist. Man ging von grundlegenden Unterschieden zwischen Männern und Frauen aus, die nicht verhandelbar sind: Körperliche, psychische und geistige Differenzen wurden als natürlich und naturgegeben angesehen und in den Philosophien seit der Antike in vielen Details ausgemacht. Mit den frühen Frauenbewegungen wurden diese Zuschreibungen in Zweifel gezogen, später auch die Naturgesetzlichkeit, mit der Männlichkeit und Weiblichkeit begründet wurde. Stattdessen spricht man nun vermehrt davon, dass das Geschlecht konstruiert bzw. hergestellt und in zahlreichen Wiederholungen eingeübt wird.
Heute herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, dass das soziale Geschlecht (engl. gender) konstruiert ist – d.h. Fähigkeiten, Verhaltens- oder Denkweisen werden nur dadurch als genuin männlich und weiblich angesehen, weil sie über institutionelle, wie etwa familiäre Strukturen verankert und reproduziert werden. Die Verbreitung von Rollenbildern bzw. „Doing Gender“ beinhaltet z.B. Vorstellungen wie: Frauen sind geeigneter für soziale Berufe und Kinderarbeit, Männer eignen sich besser für Politik oder Physik. Man geht davon aus, dass die Zuordnung von Fähigkeiten zu Geschlechtern ganz anders sein kann, ohne dass man gegen Naturgesetze oder die „Moral“ verstoßen müsste.
In Frage gestellt wird aber auch zunehmend, dass das körperliche Geschlecht (engl. sex) von Natur aus vorgegeben ist. Damit wird das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit nicht nur auf sozialer, sondern auch auf physischer Ebene hinterfragt.
Mit dem Konzept der „Geschlechterkonstruktion“ verändert sich der Blick auf das Frau- und Mannsein wesentlich. Zum einen bekommt die historische Dimension Relevanz: Das, was als weiblich oder männlich angesehen wird, gilt nun als veränderbar. Es gibt eine Fülle an Handlungsmöglichkeiten und Rollenbildern, und diese sind nicht für Personen eines bestimmten Geschlechts reserviert. Zum anderen werden soziale Räume unterschieden, weil Geschlechterkonstruktionen sich nicht nur historisch verändern, sondern sich auch wesentlich nach Altersgruppen, Klassen oder Kulturen unterscheiden können. Auch die wissenschaftliche Zuständigkeit ändert sich: Die politischen, sozialen und kulturellen Faktoren, die das jeweilige geschlechtliche Selbstverständnis prägen, werden nicht von den Naturwissenschaften oder von TheologInnen erforscht, sondern vor allem von ForscherInnen aus den Politik-, Sozial- oder Kulturwissenschaften. Sie untersuchen, über welche Bilder, Klischees, Regelungen etc. Weiblichkeit oder Männlichkeit konstruiert wird, z.B. woher die Vorstellung kommt, dass richtige Mädchen nicht raufen und richtige Buben nicht weinen. Vor allem die Gender Studies widmen sich der Untersuchung der Geschlechterkonstruktionen und dekonstruieren sie.
In jedem Fall räumt das Konzept der „Geschlechterkonstruktion“ damit auf, dass es richtige und weniger richtige Frauen oder Männer gibt und den einen oder anderen mehr Recht, Geld oder Macht gebührt.

Geschlechterkonstruktion führt zu Fragen wie:

Welche Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit werden entworfen? Welche Verhaltensweisen werden Frauen oder Männern nahe gelegt, welche scheinen ausgeschlossen zu sein? Wie werden Verstöße gegen diese Vorstellungen geahndet oder sanktioniert? Gibt es alternative Bilder? Wie und wo werden sie reproduziert? Z.B. in Medien, PolitikerInnenreden, Graffitis, Witzen, Literatur.

Woher kommen diese Konstruktionen? Wird moralisch, religiös, biologisch argumentiert? Welche Machtverhältnisse werden dadurch gefestigt, z.B. autoritäre zwischen Vater und Kindern, Einkommensdifferenzen zwischen weiblichen und männlichen Angestellten?

Gehen diese Konstruktionen von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität aus? Wie werden Abweichungen von diesem Modell – z.B. transgender, queer, Homosexualität – begründet und sanktioniert?

Wie unterscheiden sich die Konstruktionen regional, kulturell, religiös? Wie verändern sich die Geschlechterbilder mit dem Status, dem Alter oder der Herkunft der Personen?

08.11.2009