Biologismus

Immer wieder entfachen sich Diskussionen darüber, was Geschlecht ist, ob es Geschlechterunterschiede gibt, und wenn ja, worin diese begründet sind: in der Gesellschaft und Kultur oder in der Natur. Die Antwort auf diese Frage hat weitreichende soziale und politische Folgen.

Insbesondere die Überzeugung, dass Frauen und Männer, Burschen und Mädchen „von Natur aus“ so oder so sind, ist verbreitet. Doch mit der Behauptung „alle Frauen/Männer … sind so“ werden viele unterschiedliche Menschen in einen Topf geworfen. Da fallen dann alle heraus, die nicht in das Stereotyp der „richtigen Frau“, „des richtigen Mannes“ passen. Diese Menschen werden dann oft als „abnormal“ abgewertet und erleben Diskriminierungen, weil sie dem typischen Bild nicht entsprechen. Das System der Zweigeschlechtlichkeit stellt Frauen und Männer als gegensätzliche Kategorien her und macht auch all jene unsichtbar, die sich nicht in eine dieser Kategorien einordnen lassen.

Von Natur aus …

Neben der Vereinheitlichung von Frauen und Männern und dem Zwangssystem der Zweigeschlechtlichkeit ist aber auch der Bezug auf die Natur fragwürdig. Etwas als natürlich zu bezeichnen, geht meist damit einher, es als nicht veränderbar zu sehen. Wenn Geschlechterunterschiede natürlich sind, ist Kritik an ihnen zwecklos. So rechtfertigt der Bezug auf die Natur mitunter eine gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Frauen hauptverantwortlich für Kinder macht, weil sie „von Natur aus“ fürsorglicher seien.

Die Ansicht von Geschlecht als eine unveränderbare Tatsache, die an einem bestimmten Ort des menschlichen Körpers angesiedelt ist, ist seit Ende des 18. Jahrhunderts dominant. Ob Skelett, Hormone, Gene oder Gehirn – die Wissenschaft liefert bis heute Beiträge zu dieser Argumentation. Der Vorgang, Menschen und gesellschaftliche Zusammenhänge wie Geschlechterverhältnisse, auf biologische Ursachen zurückzuführen, wird Biologismus genannt. Ein näherer Blick in die Naturwissenschaften zeigt jedoch, dass die „Naturtatsache“ Geschlecht sehr unterschiedlich gesehen wurde und wird. Die Ergebnisse in Hormonforschung, Evolutionstheorie und Hirnforschung sind widersprüchlicher, umstrittener und komplexer als dies insbesondere in populären Medien dargestellt wird.

… oder vom Menschen gemacht?

Die Bezugnahme auf die Natur ignoriert den Prozess der alltäglichen Herstellung von Geschlecht. Die Geschlechterforschung hat aufgezeigt, wie Geschlecht im Laufe der Sozialisation erlernt und ständig durch Handlungen und Verhaltensweisen wie beispielsweise Körpersprache hergestellt wird. Dieser alltägliche Vorgang, der oft unbewusst geschieht und in dem Geschlecht „gemacht“ wird, heißt doing gender. Dabei spielen die Reaktionen des Gegenübers eine wichtige Rolle: geschlechterkonformes Handeln wird meistens anerkannt, während geschlechteruntypische Handlungen irritieren und auch sanktioniert werden. So lernen Menschen, dass es Vorteile hat, sich wie eine „richtige Frau“ oder wie ein „richtiger Mann“ zu verhalten. Da Geschlecht von klein auf einstudiert wird, erscheint es als etwas ganz Natürliches.

Die Debatte, ob Geschlecht etwas Natürliches oder Kulturelles/Gesellschaftliches ist, lässt sich letztlich nicht definitiv alternativ beantworten. Nicht nur in der Geschlechterforschung, sondern auch in den Naturwissenschaften ist heute die Ansicht anzutreffen, dass Natur und Kultur nicht als voneinander getrennte Gegensätze zu sehen sind. Vielmehr, so die neuere Auffassung, stehen sie in andauernder Wechselwirkung miteinander wie beispielsweise die feministische Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften zeigt.

Soziale und politische Funktionen von Biologismus

Trotz aller Kritik bleiben biologistische Theorien verbreitet und wirkmächtig, da sie mitbestimmen, wie Menschen Geschlecht und damit sich selbst verstehen. Geschlechterunterschiede als natürlich zu sehen, rechtfertigt oft soziale Ungleichheit – so müssen demnach auch keine Anstrengungen unternommen werden, um dem niedrigen Anteil von Frauen in Spitzenpositionen entgegenzuarbeiten. Erklärungsmuster, die auf die Natur zurückgreifen, sind auch einfacher, weil sie keine Handlungsaufforderungen mit sich ziehen. Gesellschaftliche Ungleichheit anzuerkennen, fordert auch von Menschen mit Gerechtigkeitssinn, den anstrengenden Kampf für mehr Gleichheit aufzunehmen.

Literaturhinweise:

  • Dissens e.V., Katharina Debus, Bernard Könnecke, Klaus Schwerma, Olaf Stuve (Hg.innen): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungen, Geschlecht und Bildung. Berlin 2012. Online: http://www.jungenarbeit-und-schule.de/material/abschlusspublikation/ (8.5.2017).
  • Anne Fausto-Sterling: Gefangene des Geschlechts? Was biologische Theorien über Mann und Frau sagen, München/Zürich: Piper, 1988.
  • Cordelia Fine, Die Geschlechterlüge. Die Macht der Vorurteile über Frau und Mann. Stuttgart: Klett-Cotta 2012.

24.08.2017