Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen waren die Sozialwissenschaften (dazu zählen etwa Anthropologie, Politikwissenschaft oder Soziologie) historisch von grundlegender Bedeutung. In den 1970er Jahren schafften es feministische Wissenschaftlerinnen vermehrt, die Probleme und Fragestellungen, mit denen sich die erstarkende Frauenbewegung politisch auseinandersetzte, auch in das sozialwissenschaftliche Feld einzubringen und es damit nachhaltig zu ändern. Ein wichtiger Schritt bestand dabei darin, den unausgesprochenen Androzentrismus der Sozialwissenschaften aufzudecken (Androzentrismus bedeutet, die männliche Lebens- und Sichtweisen als normale soziale Realität zu setzen und Fragen zur Lebenssituation von Frauen auszublenden bzw. als „anders“, „besonders“ oder „abnorm“ zu behandeln; vgl. Hartsock 1983). Vor dem Hintergrund dieser kritischen Auseinandersetzung mit der sozialwissenschaftlichen Disziplin selbst, beschäftigten sich feministische Forscherinnen (damals noch unter dem Label Frauenforschung) besonders mit der Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen durch patriarchale soziale und kulturelle Normen sowie rechtliche und staatliche Strukturen. Wichtig waren hier etwa Arbeiten, die sich kritisch mit traditionellen Familienmodellen und ihrer Einbettung in politische und ökonomische Strukturen auseinandersetzten. Sie zeigten, dass Frauen als Mütter in dieser Konstellation dem so genannten „privaten“ Bereich zugewiesen wurden, während Männern der öffentliche Raum der wirtschaftlichen Produktion und politischen Auseinandersetzung überlassen wurde, wodurch Machtungleichgewichte zwischen Frauen und Männern stabilisiert werden (vgl. Wolf-Graaf 1981). Feministische Forschung ist kritisch und hat den emanzipativen Anspruch, soziale Ungleichheiten nicht nur zu analysieren, sondern auch gerechtere Alternativen aufzuzeigen. Dieser Anspruch führte etwa feministische Anthropologinnen dazu, nach alternativen Gesellschaftsformen außerhalb der so genannten „westlichen“ oder „Ersten“ Welt zu suchen, in denen das Geschlechterverhältnis egalitärer organisiert ist. Obwohl die Einschätzungen solcher anthropologischen Studien nicht unumstritten sind, dokumentieren sie (z.B. Forschungen zum „dritten Geschlecht“, Fels 2005) die Bandbreite möglicher Formen der Organisation von Geschlecht und Sexualität. Diese Untersuchungen trugen jedenfalls dazu bei, Annahmen, dass es ein „natürliches“ Geschlechterverhältnis gäbe oder dass das Geschlechterverhältnis in Europa das am weitest entwickelte (i. S. v. gerechteste) sei, nachhaltig in Frage zu stellen.
Heute sind die Gender Studies in den Sozialwissenschaften stark verankert und haben sich in eine Vielzahl von Themenbereichen und Forschungszugängen ausdifferenziert. Dabei wurde der scheinbar „natürliche“ Charakter von so grundlegenden Ideen wie „die Frau“ oder „das Patriarchat“ in wissenschaftlichen Debatten zunehmend in Frage gestellt und nach differenzierteren und offeneren Konzepten gesucht (Diskussionen zu Sex & Gender, Performanz, Intersektionalität, Queer, waren hier wichtig). Diese neuen Konzepte trugen einerseits dazu bei, die Vielschichtigkeit und Komplexität von Unterdrückungsmechanismen besser zu verstehen, andererseits konnten dadurch auch neue Formen des gelebten und möglichen Widerstands gegen diese Mechanismen aufgezeigt werden.
Charakteristische Forschungsfragen
Das Feld der sozialwissenschaftlichen Gender Studies ist mittlerweile zu weit, um deren Arbeitsfelder umfassend aufzählen zu können. Die folgende kurze Liste von Fragestellungen soll einen Eindruck der Bandbreite von bearbeiteten Themen vermitteln:
- Wie kommen Gehaltsunterschiede zwischen Männern und Frauen zustande? Ist Armut „weiblich“? (vgl. Köppen 1985)
- Wie entwickeln sich Geschlechterrollen in der Kindheit? (vgl. Hageman-White 1984)
- Wie lebt es sich in nicht-heterosexuellen Familien? (vgl. Miko 2008)
- Was hat Kolonialismus mit Geschlechterverhältnissen zu tun? (vgl. McClintock 1994)
- Warum sind Männer so gewalttätig? (vgl. Connell 2006)
- Wie macht der Staat Frauen und Männer? (vgl. Sauer 2001)
- Wie hängen Rassismus und Sexismus zusammen? (vgl. Zack 1997)
- Wie feministisch ist die Popkultur? (vgl. Eismann 2007)
Charakteristische Publikationen
- Connell, Reawyn: Der gemachte Mann. Opladen: Leske+Budrick 32006.
- Eismann, Sonja (Hg.): Hot Topic. Popfeminismus heute. Mainz: Ventil Verlag 2007.
- Fels, Eva: Auf der Suche nach dem dritten Geschlecht. Wien: Promedia 2005.
- Hageman-White, Carol: Sozialisation: Weiblich – Männlich? Opladen: Leske+Budrick 1984.
- Hartsock, Nancy: The Feminist Standpoint: Developing the Ground for a Specifically Historical * Feminist Materialism. In: Discovering Reality: Feminist Perspectives on Epistemology, Metaphysics, Methodology, and Philosophy of Science. Hg. v. Sandra Harding/Merrill Hintikka. Amsterdam: Reidel 1983, S. 283-305.
- Köppen, Ruth: Die Armut ist weiblich. Berlin: Elefanten-Press 1985.
- McClintock, Anne: Imperial Leather: Race, Gender, and Sexuality in the Colonial Contest. New York: Routledge 1994.
- Miko, Katharina: Aushandlungsprozesse über geschlechtliche und sexuelle Identitäten in der Familie und ihre (rechtlichen) Konsequenzen. In: SWS-Rundschau 48/3 (2008), S. 285-306.
- Sauer, Birgit: Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte. Frankfurt/Main: Campus 2001.
- Wolf-Graaf, Anke: Frauenarbeit im Abseits. Frauenbewegung und weibliches Arbeitsvermögen. München: Frauenoffensive 1981.
- Zack, Naomi (Hg.): Race/Sex. Their samenss, difference, and interplay. London: Routledge 1997.
Zum Weiterlesen
- Becker, Ruth/Beate Kortendiek (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004.
- Becker-Schmidt, Regina/Gudrun-Axeli Knapp: Feministische Theorien. Hamburg: Junius 2000.
- Kreisky, Eva/Birgit Sauer (Hg.) Feministische Standpunkte in der Politikwissenschaft. Frankfurt/Main: Campus 1995.
- Mascia-Lees, Frances/Nancy Black: Gender and Anthropology. Prospect Heights: Waveland Press 2000.